Führen in agilen Strukturen – Ein realistisches Modell für den Mittelstand?
- mariohenzler
- 24. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Agilität gilt als die Erfolgsformel für Unternehmen, die sich schnell an veränderte Marktbedingungen anpassen können. In vielen Branchen – von der Softwareentwicklung bis zur Produktinnovation – haben agile Prinzipien längst Einzug gehalten. Teilweise arbeiten erfolgreiche Unternehmen sogar vollständig agil. Und so ist das Interesse des Mittelstandes nachvollziehbar, mehr darüber zu erfahren wie Arbeit neu organisiert werden kann. Unternehmen die agil arbeiten, gelten als modern, flexibel, zukunftsorientiert – und wer will das nicht gerne für sich in Anspruch nehmen. Doch bei aller Begeisterung ist in diesem Zusammenhang eine entscheidende Frage zu klären - Ist Agilität nicht nur in Projekten, sondern als Organisationsmodell, in gewachsenen, inhabergeführten Unternehmen überhaupt realistisch umsetzbar?

Denn unternehmensweite Agilität, und da sollte sich niemand etwas vormachen, ist weit mehr als eine neue Methode oder ein paar Stand-up-Meetings. Was bei Projekten noch funktionieren mag erfordert als Unternehmensstruktur einen tiefgreifenden Wandel in der Art, wie gearbeitet, kommuniziert und geführt wird. Für viele Mittelständler würde das bedeuten vertraute Rollen und Steuerungsmechanismen radikal in Frage zu stellen – und das in Zeiten, in denen schon genug Unsicherheiten lauern.
Die neue Rolle der Führung – oder die Suche nach Orientierung
In agilen Organisationen verändert sich insbesondere die Rolle der Führung fundamental. Führungskräfte werden nicht mehr als zentrale Entscheider verstanden, sondern als Ermöglicher, Unterstützer, Moderatoren. Entscheidungen sollen dezentral getroffen, Teams zur Selbstorganisation befähigt werden. Das klingt vielversprechend – ist aber in der betrieblichen Praxis häufig eine Überforderung - für beide Seiten. Wer über Jahre hinweg gelernt hat, Verantwortung über klare Weisungssysteme zu organisieren, kann sich schwer damit tun, wenn diese nicht mehr da sind.
Gerade für Führungskräfte im Mittelstand – vielfach selbst operativ stark eingebunden – bedeutet agiles Arbeiten nicht nur ein neues Führungsverständnis, sondern auch einen gefühlten Kontrollverlust. Die direkte Einflussnahme schwindet, Ergebnisse sind nicht mehr das primäre Kriterium, weiche Faktoren wie Feedbackkultur, Teamverhalten oder Lernbereitschaft werden ebenbürtig. Der Wechsel der Führungskraft vom „Macher“ zum „Möglichmacher“ klingt inspirierend – erfordert aber Akzeptanz und einen Reifegrad bei den Beteiligten, der sich erst entwickeln muss.
Agilität braucht Kultur
Noch größer wird die Herausforderung, wenn es um die Unternehmenskultur geht. Denn Agilität funktioniert nur in einem Umfeld, das Offenheit, Vertrauen, Transparenz und Fehler als Lernchance zulässt. Gerade hier zeigen sich im Mittelstand oft Spannungen: Einerseits wird Geschwindigkeit und Wandel erwartet, andererseits bleibt man kulturell stark an klassischen Führungsbildern verhaftet.
Agile Methoden wie Retrospektiven, 360°-Feedback oder interdisziplinäre Teams sind nur so wirksam wie die Haltung, mit der sie gelebt werden. Wer Agilität rein technisch einführen will – also als Methode, nicht als Mindset –, wird schnell an die Grenzen stoßen. Denn ohne tiefgreifende kulturelle Veränderung wird Agilität zur Hülle ohne Inhalt.
Inhaber geführte Unternehmen – zwischen Kontrolle und Vertrauen
Besondere Herausforderungen bringt die Einführung agiler Strukturen in inhabergeführten Unternehmen mit sich. Hier ist der Unternehmer oft direkt, präsent, entscheidungsstark als „letzte Instanz“ – und genau das war bei vielen Unternehmen über viele Jahre ein Erfolgsfaktor. Doch agile Prinzipien erfordern auch unternehmerisch einen Wechsel der Perspektive: weg vom Entscheider, hin zum strategischen Unterstützer. Das bedeutet, Kontrolle abzugeben und Verantwortung zu teilen – ein Schritt, der nicht nur Mut, sondern auch Vertrauen in die eigenen Mitarbeitenden verlangt.
Viele Inhaber fragen sich zurecht, wie sie loslassen können, ohne den Überblick zu verlieren. Und genau hier liegt die Krux: Agilität bedeutet nicht, die Führung abzuschaffen. Sie bedeutet, sie anders zu leben – klarer in der Richtung, flexibler in der Umsetzung. Wer Teams mehr Eigenverantwortung überträgt, so die Theorie, gewinnt nicht weniger Kontrolle, sondern andere Freiräume: für strategisches Denken, für Innovation – und für eine Führung, die dem Unternehmen echte Zukunftsfähigkeit verleiht. Es ist eine Frage von Reife und Willen zur großen Veränderung.
Ja, Agilität kann eine große Chance sein – aber nicht für jedes Unternehmen zu jeder Zeit. Wer im Mittelstand agil arbeiten will, braucht mehr als Schulungen und Scrum Boards. Er braucht Klarheit über das eigene Ziel, Geduld in der Umsetzung und eine realistische Einschätzung der eigenen Organisation. Denn Agilität ist kein Selbstzweck. Sie ist ein möglicher Weg, um schneller, kundenorientierter und resilienter zu werden – aber eben nur dann, wenn sie zur Organisation passt. Und meine Befürchtung ist, dass dies im Mittelstand nicht so oft der Fall sein wird. Dann kann ein evolutionärer Veränderungsweg sinnvoller und sicherer sein als der Sprung ins kalte Wasser.




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